Deutschland nimmt die meisten Migranten direkt aus der Türkei auf

Von Ricarda Breyton - Politikredakteurin

Stand: 00:21 Uhr | Lesedauer: 3 Minuten

Zahlen der EU-Kommission zeigen, dass die Bundesrepublik bei der Aufnahme von Migranten direkt aus türkischen Flüchtlingscamps weit vorne liegt. Die FDP fordert einen neuen Plan: "Das Verständnis gegenüber den Trittbrettfahrern innerhalb der EU schwindet zusehends." Der EU-Türkei Deal sieht vor, dass europäische Staaten auf freiwilliger Basis Migranten direkt aus türkischen Flüchtlingslagern aufnehmen. Deutschland hat so viele Migranten direkt aus der Türkei aufgenommen, wie kein anderes Land in der EU.
Quelle: WELT

Deutschland nimmt mit Abstand die meisten Migranten auf, die im Rahmen der EU-Türkei-Erklärung direkt aus türkischen Flüchtlingslagern nach Europa gebracht werden. Nach Zahlen der EU-Kommission kamen 9967 der insgesamt 26.835 Migranten vom 4. April 2016 bis zum 16. März 2020 nach Deutschland - mehr als doppelt so viele wie nach Frankreich, das an zweiter Stelle der Aufnahmeländer steht. Die Zahlen zitiert das Bundesinnenministerium in einer Antwort an die FDP-Bundestagsfraktion.

Demnach nahmen die Niederlande im selben Zeitraum 4571 Personen auf, Finnland 1964, Schweden 1940 und Spanien 766. Österreich, Kroatien, Italien, Litauen, Luxemburg und Portugal beteiligten sich mit Kontingenten im niedrigen dreistelligen Bereich. Zypern, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Irland, Polen, Rumänien und die Slowakei nahmen demnach keine Flüchtlinge nach dem EU-Türkei-Deal auf.

Die EU-Türkei-Erklärung wurde im März 2016 geschlossen, um illegale Migration zurückzudrängen. Sie sieht vor, dass EU-Staaten auf freiwilliger Basis Migranten direkt aus türkischen Flüchtlingslagern aufnehmen. Im Gegenzug verpflichtete sich die Türkei dazu, Menschen zurückzunehmen, die illegal zu den griechischen Inseln übersetzen. Die Vereinbarung stand wiederholt in der Kritik, etwa weil deutlich weniger Menschen in die Türkei zurückkehren als nach Europa geholt werden - aber auch weil die Lasten in der EU so ungleich verteilt sind.

"Die Entscheidung über die Aufnahmen nach der EU-Türkei-Erklärung trifft jeder Mitgliedstaat eigenständig", teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage mit. Aus Sicht der Bundesregierung sei die EU-Türkei-Erklärung "weiterhin ein notwendiges und wichtiges Instrument der Migrationskooperation zwischen der EU und der Türkei". Die Türkei habe seit 2011 rund 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und versorgt - auch mit Unterstützung der EU. Die Vereinbarung habe dazu beigetragen, "dass die Zahl unerlaubter Grenzübertritte insbesondere an der Seegrenze stark zurückgegangen" sei.

Nach Ansicht der FDP-Fraktion ist diese ungleiche Lastenverteilung bei der Flüchtlingsaufnahme allerdings nicht tragbar. "Es kann nicht sein, dass alle Staaten von dem Rahmenabkommen mit der Türkei profitieren, aber nur ein Teil hierzu einen Beitrag leistet", sagte der Außenpolitiker Ulrich Lechte, Vorsitzender des Bundestagsunterausschusses Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung. Deutschland müsse im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft "endlich einen Vorschlag unterbreiten", um den "gordischen Knoten" zu zerschlagen. "Das Verständnis der Koalition der Willigen gegenüber den Trittbrettfahrern innerhalb der EU schwindet zusehends."

In der Tat strebt die Bundesregierung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft an, die Migrationsfrage neu zu klären. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat es sich zum Ziel gesetzt, das gemeinsame europäische Asylsystem zu reformieren. Dazu gehören Fragen des Grenzmanagements, der Aufnahme von Migranten und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber.

Auch Resettlement, also die Neuansiedlung von besonders schutzbedürftigen und bereits anerkannten Flüchtlingen aus Krisengebieten, sei Teil der Reformbemühungen, heißt es in der Antwort der Bundesregierung an die FDP-Fraktion. Aktuell stellt Deutschland 5500 Resettlement-Plätze in diesem Jahr zur Verfügung. Die Migranten, die im Rahmen des EU-Türkei-Deals umgesiedelt werden sollen, gehören dazu.

In anderen EU-Staaten ist die Aufnahmebereitschaft auch für diese Gruppe von Migranten allerdings ebenfalls deutlich weniger stark ausgeprägt. Osteuropäische Staaten wie Polen halten sich zugute, bereits Migranten aus der Ukraine aufgenommen zu haben. Die Mittelmeeranrainer sind bereits vielfach mit der Aufnahme von Bootsmigranten überlastet.

FDP-Politiker Lechte schlägt vor, "unterschiedliche Beteiligungsmöglichkeiten" zu berücksichtigen. Deutschland müsse hierfür einen Vorschlag unterbreiten. "Einen Deal ohne Beteiligung aller EU-Staaten beispielsweise durch Aufnahme von Flüchtlingen, Grenzschutz der EU-Außengrenzen oder einem finanziellen Beitrag wird es nicht geben."


Quelle: welt.de vom 09.07.2020